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Biosensorische Extraktionen #6

Der Postbote galt gemeinhin als eine der bestinformiertesten Personen im Block, vielleicht sogar im Stadtteil. Doch da war sich Herr Marquardt nicht ganz sicher, denn sein Herrenfrisör wußte auch einiges zu erzählen. Zur Lösung seiner dringenden Frage nach dem Redner aus dem Park, konnte Herr Wudtke mit großem Bedauern nichts beitragen. Eilig hatte er sich wieder ans Briefezustellen gemacht, als habe Marquardt von einem Pestösen gesprochen. Vielleicht wußte Herr Wudke ja doch etwas, nur gehörte er, Marquardt, nicht zum erlauchten Kreis der Informanten.
Am Wochenende hielt sich Herr Marquard einige Stunden auf dem Wochenmarkt auf.
Mit Ohren und Augen suchte er nach Gesprächsfetzen, Gesten oder anderen Zeichen. Einem zarten Hinweis, der ihn der Person des charismatischen Redners aus dem Park näher brachte. Ihn reizten die Ideen, wie die Person gleichermaßen.
Mit jeder Stunde die verging hatte sich sein Verstand und Denken, ja sein ganzes Fühlen an diesen einen Menschen geheftet. Er hatte die Rede soweit er sie erinnern konnte und nicht bereist geschönt hatte, immer weiter und tiefer analysiert. Die Theorie von anderen Leben schien so leichtgängig, schlüssig und anmutig. Herr Marquards Begeisterung wuchs und seine Neugier brannte.
Die Wochenmitte hatte ihn nicht weitergebracht. Am Nachmittag hatte er erschöpft auf einer Bank im Park gerastet. Das Wetter war lau, nicht zu heiß und hier und da mit heiterem Sonnenschein. Herr Marquardt plagte sich mit der Frage, warum der Redner sich nicht zu erkennen gegeben hatte, keinen Hinweis auf irgendeine Gruppe, Partei oder sonstwas. Seltsam fand er das und es bot seinem unbeschäftigten Geist viel Gelegenheit zu hemmungsloser Spekulation. Wenn er sich selbst auf einem Höhenflug der Phantasie antraf, wurden seine Wagen leicht gerötet und er schimpfte sich innerlich einen Toren.
„Eine Organisation der Präsidenten und Vorsitzenden, alle gleich mächtig – ohnmächtig waren wir lange genug.“, so klang es im Erinnern.
Es war schon wieder Freitag und Herr Marquardt saß mit zwei Bekannten im ‚Schusterjungens’, einen deftigen Trink- und Speiselokal am Ufer des Flusses, der die Stadt in zwei Hälften schnitt. Die Herren politisierten gern und Marquardt hatte heute überrascht, in dem er die Rede des unbekannten Redners aus dem Gedächtnis rezitierte, ohne den Redner dabei zu enthüllen. Herr Marquardt redete die Worte wie seine eigenen und spürte der Überzeugung nach, die sich darin zu vermitteln schien. Seine Bekannten staunten einige Male nicht schlecht. Hier und da lobten sie gar seine Beweglichkeit im Denken und die Leichtigkeit der Veränderung, die an manchen Stellen geboten wurde. Marquardts Respekt vor dem Denken des Unbekannten wuchs an diesem Abend um ein vielfaches.
Nach drei Wochen fühlte sich Herr Marquardt wie ein Anhänger, nach sechs Wochen gar als Fan eines Mannes, den er in seinem ganzen Leben mal gut eine Stunde als Redner erlebt hatte. Er bestand darauf in diesem Redner Inspiration zu finden und hoffte, ihm an einem nicht all zu fernen Tag die Füße waschen zu dürfen.
Eine ganze Woche hatte Herr Marquardt im Park verbracht. Es war ihm tatsächlich gelungen sich einiger Gesichter aus dem Kreis der Zuschauer zu erinnern. Und wie es das Glück so will, konnte er in der Woche drei Personen wiederentdecken und ansprechen. Leider konnten sich zwei überhaupt nicht an den Redner erinnern, so eindringlich sich Marquardt auch bemühte. Einige schreckliche Sekunden dachte er sogar darüber nach, ob Folter dem Gedächtnis eine Hilfe sein konnte und vor seinem inneren Auge spielten sich furchtbare Szenen ab. Die dritte Person, eine rothaarige Frau mittleren Alters, erinnerte einige Details im Gesichtsschnitt und die Hände des Redners, die Herr Marquardt nicht bemerkt hatte.
Er lud die nette Dame zu einem Kaffee ein. Sie erinnerte sich, das eine entfernte Bekannte aus einem nördlichen Stadtteil, den gleichen Redner einmal auf einem Platz zwischen den Hochhäusern angetroffen habe.
Herr Marquardt dehnte seine Suche aus.

(kopflast 2005)